Das Terminservice- und Versorgungsgesetz bzw. die Petition gegen § 92 Absatz 6a

Das Terminservice- und Versorgungsgesetz bzw. die Petition gegen § 92 Absatz 6a

6. Dezember 2018 0 Von Boris Biba

Durch einen Freund wurde ich auf eine Petition gegen einen Teil des Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) aufmerksam. Ich habe mir die Petition und das Gesetz, bzw. den Entwurf mal genauer angesehen. Zunächst möchte ich erklären worum es eigentlich geht. Dann die Begründungen der Petition genauer betrachten und anschließend ein Fazit ziehen.

Worum geht es?

Das Gesetz:

Am 26. September 2018 wurde von der Bundesregierung der vom Gesundheitsministerium ausgearbeitete Gesetzesentwurf eingebracht. Bei diesem Entwurf handelt es sich um das sogenannte Terminservice- und Versorgungsgesetz. Darin geht es um die medizinische Versorgung in Deutschland und das Ziel des Gesetzes ist eine Verringerung der Wartezeiten auf Arzttermine.

Die Petition:

Die Petition 85363 „Heilberufe – Ablehnung des Gesetzesentwurfs zum Terminservice- und Versorgungsgesetz“ wurde am 25.10.2018 erstellt. Initiatoren sind der Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp), die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DptV) und die Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten (VAKJP).

Genau genommen richtet sich die Petition nicht gegen den gesamten Gesetzesentwurf sondern lediglich gegen einen, nachträglich eingefügten, Änderungsvorschlag des bestehenden Absatzes im Sozialgesetzbuch. Es geht um die Ergänzung (Nr. 51 b) zur Überarbeitung des § 92 SGB V Abs. 6a):

Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt in den Richtlinien Regelungen für eine gestufte und gesteuerte Versorgung für die psychotherapeutische Behandlung einschließlich der Anforderungen an die Qualifikation der für die Behandlungssteuerung verantwortlichen Vertragsärzte und psychologischen Psychotherapeuten.“

Ja, wenn man diesen Abschnitt nach dem dritten Mal durchlesen immer noch nicht ganz verstanden hat – ist das ganz normal. Zum besseren Verständnis wird der Absatz hier kurz näher erläutert:

Der Gemeinsame Bundesausschuss“ – Das ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland.

beschließt in den Richtlinien“ – Die Richtlinien bestimmen den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherungen. Darin wird also festgelegt, welche medizinischen Leistungen unter welchen Vorraussetzungen von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden.

Regelungen für eine gestufte und gesteuerte Versorgung für die psychotherapeutische Behandlung“ – Und hier ist der umstrittene Punkt, nämlich die „gestufte und gesteuerte Versorgung“. Was bedeutet „gestuft und gesteuert“ in diesem Zusammenhang? – Es bedeutet, dass vor die eigentliche Behandlung eine weitere Stufe gesetzt wird, man kennt das noch von dem damaligen Vorstoß, dass man, egal welches Leiden man hatte, zu erst einen Allgemeinmediziner besuchen musste und dieser dann eine Überweisung zum Facharzt ausstellte. In Bezug auf die psychotherapeutische Behandlung heißt das also, dass man vor dem Besuch beim Therapeuten einen anderen Arzt aufsuchen muss, welcher dann den jeweiligen Behandlungsbedarf ermittelt und den Patienten entsprechend überweist.

einschließlich der Anforderungen an die Qualifikation der für die Behandlungssteuerung verantwortlichen Vertragsärzte und psychologischen Psychotherapeuten.“ – Auch die benötigte Qualifikation, die der Arzt in der vorgelagerten „Stufe“ hat muss noch in den Richtlinien festgelegt werden.

Soweit zur Erklärung. Wo liegt jetzt das Problem?

Das erklärte Ziel des Gesetzes ist u.a. die Verringerung von langen Wartezeiten auf Arzttermine. In der Petition hingegen wird behauptet, dass dieser oben genannte Absatz diesem Ziel nicht nur widerspricht, sondern sogar Patienten und Physiotherapeuten diskriminiert. Es wird gefordert den Absatz ersatzlos zu streichen.

Was will das Gesetz mit diesem Absatz erreichen?

Es ist ähnlich wie die schon erwähnte Regelung, zuerst zum Hausarzt zu gehen bevor man den Facharzt aufsucht. Damals wurde argumentiert, dass Menschen bei kleinen Leiden bereits zum vermeintlich zuständigen Facharzt gehen, obwohl der Hausarzt diese Leiden auch behandeln könnte und somit für Patienten mit großen Leiden die zur Verfügung stehende Behandlungszeit verringern.

Wie aus dem Plenarprotokoll der 51. Sitzung vom 26. September 2018 (Seite 5330 im Pdf) hervorgeht weist die Argumentation des Bundesminister für Gesundheit, Jens Spahn, gewisse Parallelen auf. Durch die vorgelagerte Untersuchung soll gewährleistet werden, dass nur Patienten eine psychotherapeutische Behandlung erhalten, die sie wirklich benötigen. Vermutlich steht dabei auch das alternative Hilfsangebot im Hintergrund der Überlegung. Also die Vermittlung an Selbsthilfegruppen, sozial-psychiatrische Dienste usw. für Menschen die nicht zwingend einer psychotherapeutischen Behandlung bedürfen.

Aber was spricht nun dagegen?

Zunächst einmal ist die Argumentation des Gesundheitsministers von Unterstellungen geprägt:

Die genaue Aussage von Herrn Spahn lautet: „Deswegen ist der erste Schritt, dass wir zu einer besseren Versorgungssteuerung kommen, dass nämlich im Zweifel diejenigen, die man vielleicht nicht ganz so gern als Patienten im Wartezimmer sitzen hat, die auch etwas mehr Versorgungsbedarf haben, eher einen Termin bekommen als möglicherweise diejenigen, bei denen es etwas angenehmer ist, die Therapie zu machen.“

Also:

  1. Menschen gehen bereits bei kleinen psychischen Leiden zum Psychotherapeuten, die dieser gar nicht behandeln müsste.
  2. Psychotherapeuten behandeln lieber Menschen mit leichten Leiden als Menschen mit schweren psychischen Leiden, weil diese leichter zu behandeln sind.

Nun kann man diese Art der Argumentation für beknackt halten… Aber man kann trotzdem die Frage stellen ob der Gesetzesentwurf trotzdem für eine Entlastung der Therapeuten und damit für eine bessere Versorgung von Menschen mit „echten“ psychischen Leiden führt.

Um diese Frage zu erläutern kann man sich die Begründungen der Petition genauer ansehen:

Begründung 1:

Dieses Gesetzesvorhaben diskriminiert im Entwurf zum § 92 eine ganze Patientengruppe. Den psychisch kranken Patientinnen und Patienten wird damit aufgebürdet, oftmals enorme, hoch schambesetzte seelische Belastungen gegenüber Behandlern darzustellen, die sie danach in der Regel nicht wiedersehen werden und die sie nicht selbst nach Vertrauensgesichtspunkten gewählt haben.“ – Ja, nach dem aktuellen Stand des Entwurfs kann das durchaus passieren. D.h. Menschen mit „echten“ psychischen Leiden müssen dem Arzt in der vorgelagerten Stufe der Behandlungssteuerung erstmal ihr Leid ganz genau schildern, damit dieser überhaupt die Möglichkeit hat, die richtige Behandlungsweise zu empfehlen. Gerade bei psychischen Leiden ist das sicher eine unangenehme Situation.

Begründung 2:

Psychisch Kranken wird ein Hürdenlauf zugemutet, der sie unnötig belastet und gegenüber anderen Patientengruppen benachteiligt. Es entsteht ein neues Nadelöhr vor der eigentlichen Behandlung.“ – Ein Arztbesuch mehr, bedeutet einen Mehraufwand für den Patienten. Zudem nimmt auch die Belastung der vorgelagerten Ärzte zu, was bedeutet, dass es hier möglicherweise zu terminlichen Engpässen kommt. Bzw. Sehr wahrscheinlich, denn die Wartezeit für eine psychotherapeutische Behandlung ist ohnehin extrem lang. Z.B. wird in diesem, wenn auch älteren, Artikel von durchschnittlich 15 Wochen Wartezeit auf die erste Sprechstunde gesprochen.

Begründung 3:

Mit der Reform der Psychotherapie-Richtlinie 2017 sind neue Strukturen eingeführt worden, deren Auswirkungen zunächst erfasst und evaluiert werden müssten, bevor über neue Eingriffe entschieden werden kann.“ – 2017 wurde bereits eine Änderung der Richtlinie vorgenommen um Wartezeiten zu verkürzen. Dabei geht es um das am 1.April 2017 eingeführte Recht auf einen Termin in einer Sprechstunde die ambulante Psychotherapeuten seitdem anbieten müssen. Allerdings geht es hier nicht um Therapieplätze, sondern lediglich um den Termin zum Erstgespräch. Es ist ein bisschen ironisch, dass die Initiatoren der Petition gerade diese Regelung als Begründung anführen, da sie auch an dieser Regelung damals bereits Kritik geübt haben. Aber abgesehen davon, haben sie recht damit, dass bisher keine Evaluierung stattgefunden hat, welchen Erfolg diese Regelung gebracht hat.

Begründung 4:

Der Entwurf zum § 92 diskriminiert darüber hinaus auch die psychotherapeutisch tätigen Ärzte und Psychologischen Psychotherapeuten, die aufgrund ihrer Fachkunde und Zulassung alle über die Qualifikation zur Diagnostik, Indikationsstellung und Behandlungsplanung verfügen.“ – Hier wird die Unterstellung aufgegriffen, dass die Psychotherapeuten lieber „leichte Fälle“ annehmen und selbst nicht in der Lage seien, „leichte Fälle“ als solche zu diagnostizieren und entsprechend an andere Hilfsangebote zu vermitteln. In gewisser Weise liegt tatsächlich eine Diskriminierung vor, nämlich insoweit, dass Psychotherapeuten ihre Patienten von anderen vorgelagerten Behandlern zugewiesen bekommen, während andere Ärzte von ihren Patienten direkt ausgewählt werden können.

Begründung 5:

In einer Studie einer Krankenkasse wurde nachgewiesen, dass Psychotherapeuten korrekte Behandlungsindikationen stellen.“ – Heißt jetzt soviel wie: Die Unterstellung, dass Psychotherapeuten falsche Behandlungsindikationen stellen, ist falsch. Die Studie konnte ich leider nicht ermitteln, weshalb diese Begründung unkommentiert bleibt.

Begründung 6:

Mehrere unabhängige Versorgungsstudien belegen, dass in Deutschland mit gutem Erfolg und zur hohen Zufriedenheit der Patienten behandelt wird und die Behandelten zuvor nachweislich erheblich psychisch belastet waren.“ – Ähnlich 5, habe die Studien nicht gefunden. Das heißt nicht, dass sie nicht existieren, aber der Artikel kostet mich schon jetzt viel Zeit, daher verzichte ich hier auf weitere Nachforschungen.

Begründung 7:

Das geplante Vorgehen bindet völlig unnötig die Ressourcen von Ärzten und Psychotherapeuten, die damit der eigentlichen psychotherapeutischen Behandlung entzogen werden.“ – „Völlig unnötig“ würde das Gesundheitsministerium wohl bestreiten. Aber man kann sich durchaus denken, dass die vorgelagerten Behandler durch den Erstdiagnose-Aufwand insgesamt weniger Betreuungszeit für andere Patienten zur Verfügung haben. Wobei man auch annehmen darf, dass der Therapeut, zu dem der Patient letztlich überwiesen wird, ebenfalls selbst eine Diagnose stellt, was bedeutet, dass hier ein Arbeitsschritt doppelt gemacht wird.

Schlusswort der Petition:

Die beabsichtigte Neuregelung kann nur als der ungerechtfertigte Versuch einer Rationierung von Behandlungsleistungen aufgefasst werden. Bei noch unzureichender Bedarfsdeckung soll offensichtlich die Versorgung durch Priorisierung und Behandlungseinschränkungen ‚fürsorglich eingehegt‘ werden. Das wäre ein folgenschwerer Eingriff in die Versorgungsstruktur psychisch kranker Menschen.“ – Ungerechtfertigt ist der Versuch nicht, da es ja durchaus Handlungsbedarf im Bereich der Wartezeiten gibt. Allerdings ist die Kritik, der unzureichenden Bedarfsdeckung, die hier angebracht wird und übrigens auch schon bei der oben genannten Maßnahme 2017 angebracht wurde, berechtigt. Wäre es ein folgenschwerer Eingriff in die Versorgungsstruktur? Ja, eine zusätzliche Diagnosestufe die einen Mehraufwand und eventuell eine Verlängerung der Wartezeit für den Patienten bedeutet kann man durchaus so bezeichnen.

Jens Spahn geht auf die Bedarfsdeckung in seiner Rede am 26. September 2018 ein und verweist auf das Beispiel Freiburg: Die Stadt mit dem höchsten Versorgungsgrad im psychotherapeutischen Bereich in Deutschland ist Freiburg; die Stadt mit den längsten Wartezeiten ist Freiburg. Deswegen die meisten Psychotherapeuten und die längsten Wartezeiten scheint die Versorgungssteuerung da noch ausbaufähig zu sein.“ (Plenarprotokoll vom 26. September 2018, 51. Sitzung, Seite 5329 im pdf)

Was dem Gesundheitsminister bei seiner Schlussfolgerung entgeht ist, dass die Nachfrage erst sinkt wenn der Markt gesättigt ist, d.h. in Bezug auf die therapeutische Versorgung der Bevölkerung: Solange die Nachfrage mit zunehmenden Angebot steigt, ist eine ausreichende Versorgung nicht gewährleistet. – So ist das jedenfalls beim allgemeinen Gesetz von Angebot und Nachfrage.

Fazit:

Die Petition hat ihre Berechtigung und das bereits 2017 an anderer Stelle von den Initiatoren geforderte Argument nach einer größeren Bedarfsdeckung im Bereich der Psychotherapie weiterhin Gültigkeit. Der Gesetzesentwurf verfehlt sein Ziel in diesem Absatz, weshalb er mindestens nachgebessert werden sollte.

Die Petition fordert den Absatz ersatzlos zu streichen. Um eine Verschlechterung für Menschen mit psychischen Leiden zu verhindern sollte das wohl passieren. Allerdings verbessert sich dadurch auch die Versorgungssituation nicht.

Wenn man sich den Hintergrund für diesen Absatz im Gesetzesentwurf näher ansieht, stößt man auf zwei Probleme:

  1. Es dauert lange bis man einen Termin bei einem Psychotherapeuten erhält.
  2. Nicht alle psychischen Leiden erfordern zwingend eine Psychotherapie.

Dass diese Probleme nicht durch den Gesetzesentwurf gelöst werden wurde hier bereits erklärt. Aber vielleicht hilft ein anderer Ansatz: Das zweite Problem bedingt das erste, d.h. wenn es tatsächlich Patienten in psychotherapeutischer Behandlung gibt, welche diese eigentlich gar nicht benötigen, verlängern sich dadurch die Wartezeiten für andere Patienten. (Es ist es auch egal ob davor noch ein „Auswahlarzt“ eine Diagnose stellt oder nicht, weil ja dann zusätzlich alle auf den Termin beim „Auswahlarzt“ warten müssen. – Soviel zu „Was das dauert zu lange? Dann führen wir einfach einen zusätzlichen Arbeitsschritt ein, damit es schneller geht!“)

Der Vorschlag: Psychotherapeuten besser mit anderen Hilfsangeboten vernetzen, so dass diese in tatsächlichen Fällen von „leichten“ psychischen Leiden ihre Patienten dorthin verweisen können. Und umgekehrt, Selbsthilfegruppen, sozial-psychiatrische Dienste usw. direkten Zugang zu psychotherapeutischen Expertise haben und ggf. auch Klienten in dringenden Fällen direkt an Psychotherapeuten vermitteln können.