Fairness in Unternehmen

Fairness in Unternehmen

7. März 2019 0 Von Boris Biba

Es fällt als Vorgesetzter, “Leader” oder Chef oft schwer, sich ein objektives Bild über die Bedürfnisse und das Wohlbefinden der Mitarbeiter zu verschaffen. Trotzdem wird von diesen Personen erwartet, dass sie faire Entscheidungen treffen.

In diesem Artikel soll deshalb ein Gedankenexperiment vorgestellt werden, das den Blick für unfaire Missstände im eigenen Betrieb schärfen kann. Im Grunde ist das Gedankenexperiment nicht neu, allerdings war seine Aufgabe wesentlich größer gedacht, weshalb es auch prima für große Unternehmen geeignet ist, für mittlere und kleine sowieso.

Zuerst wird das Gedankenexperiment erklärt und beschrieben, wie man es auf ein Unternehmen anwenden kann. Anschließend wird die Kritik an dieser Denkweise beleuchtet und warum Fairness in Unternehmen überhaupt sinnvoll ist. Nach der Zusammenfassung kommt dann noch ein kleines Angebot.

Das Gedankenexperiment

Das Gedankenexperiment “der Schleier des Nichtwissens” wurde von John Rawls in seiner “Theorie der Gerechtigkeit – Gerechtigkeit als Fairness” entwickelt. Es sollte helfen, eine gerechtere und faire Gesellschaft zu entwickeln. Rawls schlug vor, mithilfe des Experiments bestehende und neue Regeln des Zusammenlebens auf ihre Fairness hin zu überprüfen.

Das Gedankenexperiment wird im Folgenden skizziert:

Stell dir vor du wüsstest nicht wer oder was du bist. Du kennst weder deine finanzielle Situation, dein Geschlecht, deine Hautfarbe, dein Alter, deine Neigungen oder deinen Bildungsstand. Du weißt nur du bist ein Mensch und du weißt wie menschliche Gesellschaften im Allgemeinen aussehen können (Wirtschaftssystem, Sozialsystem, Art des Herrschaftssystems usw.). In diesem Zustand, den Rawls als “Schleier des Nichtwissens” bezeichnet, ist es deine Aufgabe Grundregeln für eine Gesellschaft festzulegen. In dieser Gesellschaft wirst du später selbst leben (auch das weißt du). Wenn du rational vorgehst, kannst du also nur Regeln festlegen, die niemanden unfair behandeln, denn du weißt ja nicht, ob du dich sonst nicht selbst unfair behandelst.

Natürlich könntest du hoffen, dass du ein erfolgreicher Banker bist und in der Gesellschaft keine Strafen für dubiose Bankgeschäfte festlegen. Doch wenn sich der Schleier lüftet und du bist ein leichtgläubiger Anleger, wirst du dir in den Hintern beißen. Daher ist es in deinem Interesse, Regeln aufzustellen, die beiden Interessen gerecht werden.

Die Anwendung

Nun ist der “Schleier des Nichtwissens” als Werkzeug für die gesellschaftliche Gestaltung gedacht. Man kann sich vorstellen, dass sich sehr komplexe Gedankengänge ergeben, wenn man versucht z.B. ein neues Gesetz gänzlich anhand dieses Prinzips zu überprüfen.

Für Unternehmen stellt das jedoch eine Herausforderung dar, die man bewältigen kann. In einem Unternehmen sind, je nach Größe und Struktur, auch sehr komplexe Vorgänge zu berücksichtigen. Allerdings bei Weitem nicht so umfassend wie bei einer nationalen oder gar internationalen Gesellschaft. Daher lässt sich das Gedankenexperiment auch vergleichsweise leicht übertragen:

Stell dir vor, du weißt nichts von dir. Unter anderem sind dir deine Stellung, dein Verdienst, dein Geschlecht und dein Mitspracherecht in deinem Unternehmen unbekannt. Natürlich weißt du aber grundlegend wie Unternehmen aussehen können. Dabei spielt die Rechtsform nicht unbedingt eine Rolle, die Umgangsformen, die Hierarchie, die Arbeitszeiten und die Vergütung dagegen schon.

Es gibt grundlegend zwei Möglichkeiten das Experiment anzuwenden:

Beispiel 1: Das Start-Up (oder eine andere Gründungsform)

Du bist dabei dich selbständig zu machen. Vielleicht hast du schon ein kleines Team und ihr müsst euch überlegen, welche Regeln ihr aufstellen wollt. Was sollen eure Leitprinzipien sein? Wie wollt ihr die Vergütung (innerhalb des gesetzlichen Rahmens) regeln? Wer soll in welcher Position wie viel Mitspracherecht haben? Usw.

Beim Aufstellen dieser Regeln kann es hilfreich sein, sich immer wieder in den “Schleier des Nichtwissens” zu begeben und zu überlegen, was eine konkrete Regel für die Allgemeinheit bedeutet.

Je früher man anfängt, dieses Prinzip anzuwenden, desto leichter ist es eine faire Unternehmensstruktur zu etablieren. Dabei gilt auch, dass die Regeln, die man mithilfe des Prinzips aufstellt, nicht unumstößlich sind. Auch wenn man sich alle Mühe gibt, kann man etwas vergessen oder es tritt eine neue Situation ein, in der man die Regel anpassen muss. Außerdem will man ja gerade in der Gründungszeit keine Zeit mit abstrakter Regelformulierung und “was wäre wenn”-Szenarien verschwenden. Der “Schleier des Nichtwissens” kann helfen faire, allgemeingültige Regeln zu entwickeln. Z.B. wenn man überlegt eine gemeinsame Mittagspause einzuführen, bei der abwechselnd gekocht wird. Im Schleier wird schnell klar, das der angestellte Familienvater, der in der Nähe des Betriebs wohnt, seine Pause lieber zuhause mit der Familie verbringt. Das kann man dann in die Überlegung mit einfließen lassen und vielleicht von vornherein Ausnahmen zulassen.

Das Prinzip funktioniert auch, wenn man gar nicht tausend abstrakte Rollen durchgehen muss, sondern z.B. einen neuen Mitarbeiter für xy einstellt. Dann kann man in den Schleier treten und gewinnt so eine andere Perspektive, z.B. die der Kollegin, die nun ihr Büro teilen soll. Das ist deshalb einfacher, weil man die konkreten Neigungen der Betroffenen berücksichtigen kann und nicht alles Mögliche durchspielen muss. Z.B. wenn die eine Mitarbeiterin gerne im Team, der andere aber lieber alleine arbeitet. Wichtig ist hier, dass man keine Mutmaßungen anstellt, sondern sich auf das Bekannte konzentriert und im Zweifel die fehlenden Informationen einholt.

Beispiel 2: Das etablierte Unternehmen

In einem etablierten Unternehmen ist die Anwendung etwas komplexer. Die Regeln wurden schließlich schon nach irgendwelchen Kritierien aufgestellt. Wenn man Glück hat, wurden diese Kritieren festgehalten und man kann überprüfen, ob sie dem “Schleier des Nichtwissens” ähneln, also auch auf Fairness ausgelegt sind. Manchmal hat man aber wenig bis gar keine Anhaltspunkte, nach welchen Kritieren eine Regel aufgestellt wurde. Dann muss man die Regel selbst überprüfen.

Es ist nicht sinnvoll, jede Regel im internationalen millionen-schweren Unternehmen unter die Lupe zu nehmen. Da wird man nicht fertig und viele Dinge ergeben sich ohnehin von alleine, ohne dass es ein Gedankenexperiment braucht. Die Regeln auf die man persönlich einen Einfluss hat lohnen aber trotzdem einen Blick. Und vielleicht kann man den Vorgesetzten auch auf den ein oder anderen unfairen Umstand hinweisen, der außerhalb des eigenen Zuständigkeitsbereich liegt. Natürlich mit Feingefühl.

Du bist selber “Big Boss” in einem Unternehmen? Toll, dann kannst du ja “frei” entscheiden. Aber wo fängst du am besten an?

Tritt in den “Schleier des Nichtwissens” ein. Du bist nun nicht mehr an der Spitze des Unternehmens, sondern du weißt nur, dass du in diesem Unternehmen arbeitest. An welcher Position willst du auf keinen Fall stehen, wenn du aus dem Schleier kommst? – Da kannst du ansetzen.

Aber vergiss nicht: Menschen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Das was für dich ein Graus ist, z.B. eintönige Arbeit, gefällt anderen vielleicht. Also konzentriere dich dabei erst mal auf die strukturellen Dinge. Arbeitszeiten, Berechnung der Vergütung, Wertschätzung, Umgangsformen, Mitspracherecht, etc.

Später kannst du dann auch versuchen verschiedene Bedürfnisse verschiedener Persönlichkeiten zu berücksichtigen. Aber hier gilt genau wie beim ersten Beispiel: Keine Mutmaßungen. Sonst machst du am Ende aus einem zufriedenen Mitarbeiter einen unzufriedenen.

Kritik

Wie bei jeder anderen philosophischen Theorie gibt es auch an der Theorie der Gerechtigkeit von Rawls Kritik. Zwei Hauptkritikpunkte an der ursprünglichen Theorie sind:

  • Die Überlegungen im Schleier des Nichtwissens führen zu übervorsichtigen Entscheidungen und bremsen daher die Entwicklung einer Gesellschaft.
  • Es ist unmöglich, Überlegungen anzustellen in die nicht doch persönliche Interessen einfließen.

Bezogen auf Unternehmen kann man außerdem kritisieren:

  • Es ist unnötig abstrakte Regeln für jeden Fall aufzustellen, die Regeln ergeben sich aus konkreten Situationen.

Vielleicht sind dir auch noch andere Kritikpunkte eingefallen, dann freue ich mich über Feedback.

Im nächsten Abschnitt werden die obigen Kritikpunkte genauer betrachtet.

Übervorsichtige Entscheidungen

Gerade in der Wirtschaft ist es oft wichtig schnelle Entscheidungen zu treffen, dabei kann man nicht immer auf alle Eventualitäten Rücksicht nehmen. Ein Gedankenexperiment wie der “Schleier des Nichtwissens” ist dann nicht immer zielführend, denn man kann sich einerseits in langen Debatten verlieren (wenn man in der Gruppe überlegt), andererseits drehen sich die Gedanken schnell um sich selbst, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

Deshalb wird hier vorgeschlagen, das Experiment nur dann anzuwenden, wenn es darum geht konkrete, aber möglichst allgemein gültige und faire Regelungen zu finden. Auf längere Sicht spart der “Schleier des Nichtwissens” Zeit. Je mehr man vorher bereits bedenkt, desto mehr Konflikte und Nachregulierung kann man vermeiden. Außerdem hat man ein Kontrollkriterium, auf das man bei späteren Problemen zurückgreifen und das zur Rechtfertigung der getroffenen Entscheidung herangezogen werden kann.

Überlegungen in die kein eigenes Interesse einfließen sind unmöglich

Stimmt. Schon das Interesse, die eigenen Interessen auszublenden ist eigenes Interesse. Es geht auch gar nicht darum sich selbst komplett auszuklammern. Immerhin muss man ja ebenfalls die eigene Rolle bei den Überlegungen berücksichtigen, sich selbst gegenüber sollte man auch nicht unfair entscheiden.

Dennoch ist der “Schleier des Nichtwissens” eine gute Möglichkeit die eigenen Interessen von anderen zu unterscheiden. Denn schon der Versuch eigene Bedürfnisse auszublenden und sich in eine andere Position einzufühlen kann neue Sichtweisen eröffnen. Tritt man aus dem Schleier heraus hat man letztlich ein schärferes Bild von dem, was die eigenen Entscheidungen beeinflusst.

Regeln ergeben sich aus konkreten Situationen

Manchmal ist das so und oft ist daran gar nichts auszusetzen. Aber Situationen ändern sich und Menschen neigen leider dazu, alte Regeln beizubehalten, auch wenn diese nicht mehr ganz passen. Im “Schleier des Nichtwissens” stellt sich automatisch die Frage nach dem Warum. Warum ist die Regel wie sie ist? Wem nützt das? Für wen ist das unfair? Oft muss man gar nicht tief eintauchen um festzustellen, dass eine Regel entweder überflüssig ist oder angepasst werden sollte. Als Nebeneffekt hilft der “Schleier des Nichtwissens” unnötig viele Regeln zu vermeiden indem er den Aufwand, neue Regeln aufzustellen etwas erhöht.

Warum Fairness?

Das Leben ist nicht fair. Das erfährt jeder hin und wieder. Warum also sollte man als Chef trotzdem versuchen fair zu sein?

Es liegt in deinem Interesse und in dem deines Unternehmens. Fairness im Unternehmen steigert die Zufriedenheit der Mitarbeiter, die wiederum steigert die Leistungsbereitschaft, die ihrerseits die Qualität der Arbeit steigert. Ein anderer Faktor ist die Fluktuation. Wer sich im Job unfair behandelt fühlt, neigt eher dazu sich eine andere Arbeitsstelle zu suchen. Passiert das in einem Unternehmen häufig, geht viel Zeit und Geld verloren. Für die Einarbeitung neuer Mitarbeiter, für Stellenausschreibungen und Bewerbungsgespräche. Mit jedem Mitarbeiter der geht, verlierst du auch betriebsinternes (Fach)Wissen (außer du weißt alles selber, aber dann musst du es den neuen Leuten auch wieder zeigen). Fairness kostet dich fast nichts, kann dir aber viel bringen.

Das waren die Argumente für die Menschen, die einen materiellen Grund brauchen, um anderen gegenüber fair zu sein. Wenn du da nicht dazu gehörst: Umso besser! Je ehrlicher du die Fairness vertreten kannst, desto glaubwürdiger bist du und desto weniger Kraft kostet es dich.

Das Leben ist nicht fair – Aber Menschen können fair sein

Zusammenfassung

  • Der “Schleier des Nichtwissens” funktioniert mit der Annahme, dass du nichts über dich selbst weißt und so Entscheidungen treffen kannst die für alle Beteiligten fair sind. Die eigene Position muss zwar auch berücksichtigt werden, aber aus einer “neutralen” Perspektive heraus.
  • Das Gedankenexperiment lässt sich von Gesellschaften auf Unternehmen übertragen
  • Es gibt zwei grundlegende Anwendungsmöglichkeiten: Beim Erstellen neuer Regeln und beim Überprüfen bestehender Regeln.
  • Auch wenn du nichts von dir selbst wissen sollst, versuche möglichst alle relevanten Informationen zu bekommen, bevor du entscheidest. Nutze keine Mutmaßungen als Grundlage.
  • Es gibt Kritik am “Schleier des Nichtwissens”. Ob seine Anwendung sinnvoll ist hängt von den Gegebenheiten ab. Es schadet aber nicht das Gedankenexperiment im Hinterkopf zu haben, auch wenn man es nicht komplett durchspielt.
  • Fairness ist wirtschaftlich und zwischenmenschlich sinnvoll.

Das Angebot

Die Anwendung des Gedankenexperiments erfordert Übung. Je öfter man sich darauf einlässt, desto mehr unterschiedliche Faktoren erkennt man, die bei einer fairen Entscheidung beachtet werden müssen. Es führt aber nicht immer zum Ziel. Rücksicht, Kommunikationsfähigkeit und analytisches Denken sind oft wichtiger als die bloße Anwendung des “Schleiers”.

Wenn du Hilfe brauchst um eine faire Entscheidung zu treffen, kannst du dich gerne unverbindlich bei mir melden. Beispiele für diesen Fall wären:

  • Du willst eine faire Entscheidung treffen, bist aber selbst von der Thematik betroffen und hättest gerne eine neutrale Meinung.
  • Das Problem ist sehr Vielschichtig und du hättest gerne jemanden der es mit dir in kleinere Teile zerlegt.
  • Du bist Gründer und willst von Anfang an fair sein, brauchst aber Hilfe bei deinem Konzept.
  • Dir wird vorgeworfen, unfaire Entscheidungen zu treffen dabei gibst du dir alle Mühe gerecht zu sein.