
Die Wahrheit
Wahrheit entspricht den Tatsachen bzw. der Wirklichkeit.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wahrheit
Und das sollte als Erklärung schon reichen. Tut es nicht. Die Wahrheit wird mit Meinung, Blickwinkeln und Halb-Wahrheit gleichgesetzt. Das entwertet nicht nur den Begriff der Wahrheit, es stellt auch eine Gefahr für unsere gesellschaftliche Struktur dar. Ja, vielleicht ist es sogar eine Gefahr für das Überleben der Menschen an sich.
Eine Meinung kann wahr sein – Wahrheit ist aber keine Meinung
Natürlich kann eine Meinung den Tatsachen entsprechen und dadurch auch wahr sein. Aber Wahrheit ist mehr – sie existiert ohne Meinung. Selbst wenn kein Lebewesen der Meinung ist, dass die Erde rund, die Sonne heiß oder Eisbären weiß sind, sind sie es doch. Es spielt auch keine Rolle, ob jemand je die Wahrheit herausfindet oder nicht, also den eigenen Irrtum erkennt. Man kann sich ein oder mehrere Leben lang in Dingen irren ohne, dass sich dadurch die Wahrheit verändert (denn die Tatsachen verändern sich ja nicht). Was die Menschen für wahr halten, beeinflusst deren Denken und Handeln, aber es beeinflusst nicht die Wahrheit an sich. Die Erde wird nicht flach, weil Leute daran glauben.
Blickwinkel, Winkel-Blicke und EINE Wahrheit
Wenn Menschen davon sprechen, es würde mehrere “Wahrheiten” zu ein und dem selben Sachverhalt geben, dann meinen sie eigentlich, dass es mehrere Blickwinkel und Betrachtungsweisen gibt. Geht man einer Sache nach und betreibt möglicherweise sogar wissenschaftliche Forschung stellt sich oft heraus, dass kein (vor der Forschung existierender) Blickwinkel vollständig den Tatsachen entspricht. Wie der Ausdruck “Blickwinkel” ja schon sagt, wird hier die Sache aus einem Winkel heraus betrachtet, der es ggf. unmöglich macht, den ganzen Sachverhalt zu erkennen.

Halb-Wahrheiten
Es gibt keine unterschiedlichen Wahrheiten zu ein und der selben Sache. Dieser Ausdruck findet zwar gerne in Diskussionen Anwendung, wenn man dem Gegenüber zugestehen möchte, dass seine Sichtweise der eigenen ebenbürtig ist, aber mehrere parallel existierende (ganze) Wahrheiten zu einer Sache sind logisch unmöglich. Eine Aussage beschreibt entweder den Sachverhalt vollständig und richtig, dann ist es die Wahrheit. Oder sie tut es nicht, dann ist es nicht die Wahrheit, sondern vielleicht ein Teil der Wahrheit, wenn Teile des Sachverhalts richtig beschrieben werden und andere fehlen oder falsch sind. Das sind dann Halb-Wahrheiten, die eben zum Teil richtig, aber zum Teil auch falsch sind (im Sinne von sie entsprechen den Tatsachen bzw. nicht).
Halb-Wahrheiten sind gefährlich, denn sie verkleiden sich gerne als die Wahrheit. Da manche Teile stimmen, nimmt man leicht an, dass alle Teile den Tatsachen entsprechen und glaubt auch die falschen oder übersieht die fehlenden Teile.
Es ist unheimlich schwer und es ist nicht schwer
Es gibt Menschen, die beharren auf der Aussage “es gibt nicht die eine Wahrheit”. Und sie meinen damit “es gibt nicht die eine Meinung, welche die ganze Wahrheit enthält”.
In vielen Fällen ist diese (die zweite, die erste ist Quatsch) Aussage auch richtig. Es ist oft unheimlich schwer und manchmal gar unmöglich die Wahrheit in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen und sie dann noch in eine Aussage zu packen ist oft noch viel schwerer (deshalb sind viele wissenschaftliche Studien und Arbeiten auch so lang).
In anderen Fällen ist diese (immer noch die zweite, die erste ist immer noch Quatsch) Aussage falsch. Besonders dann wenn sich die Mühe gemacht wurde, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen. Wenn man sich schon oft geirrt, den Irrtum erkannt, weitergeforscht, sich wieder geirrt und so lange rumprobiert hat, bis ein nachvollziehbares, logisches (!) und auch neuen Erkenntnissen nicht widersprechendes Ergebnis herausgekommen ist. Dann kann es sein, dass die Meinung, welche durch eine Aussage ausgedrückt wird, die diesem Ergebnis entspricht die Wahrheit ist.
Exkurs: Warum ist die erste Aussage “es gibt nicht die eine Wahrheit” Quatsch? Weil es bezogen auf einen Sachverhalt durchaus DIE EINE Wahrheit gibt. Nämlich die Aussage welche die Tatsache vollständig und richtig beschreibt. Darüber hinaus gibt es Wahrheit ohnehin nur in Aussagen in Bezug auf bestimmte Sachverhalte. DIE EINE WAHRHEIT – als metaphysisches Dings das alle Aussagen die den Tatsachen entsprechen in sich vereint gibt es (höchst wahrscheinlich) tatsächlich nicht. Wenn doch ist es 42.
Wir strafen die zweite Aussage regelmäßig in unserem Alltag lügen. Ein Beispiel in einem ganz und gar erfundenen Gespräch:
“Die Herdplatte ist heiß.” – “Ja? Meinst du?” – “Ja, meine ich, ich habe gerade noch darauf gekocht.” – *Zzzzz* “Autsch, das war die Wahrheit.”
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Aussage: “Das ist deine Wahrheit”, welche auch darauf hinweist, dass es mehrere Wahrheiten geben könnte. Gemeint ist eigentlich “das ist deine Meinung”. Denn die Wahrheit gehört niemandem und es gibt nicht mehrere. Sie nimmt ihre Gestalt in einer Aussage an, die den Tatsachen entspricht. Es ist auch völlig egal, wer diese Aussage tätigt. (Die Aussage ist übrigens verwandt mit “nach meiner Logik”.)
Der einzige Fall, bei dem man von mehreren Wahrheiten sprechen kann ist folgender: Es gibt verschiedene Aussagen zu verschiedenen Sachverhalten die alle den Tatsachen entsprechen. Z.B.: “Die Herdplatte ist heiß.” (gemeint ist die Herdplatte aus dem obigen Beispiel, welche tatsächlich heiß ist) und “die Sonne ist heiß” (Sonnen haben diese Angewohnheit). Beides entspricht den Tatsachen und somit gibt es mehrere Wahrheiten zu unterschiedlichen (!!!) Sachverhalten.
Der/Die aufmerksame Leser/in hat bei der Überschrift dieses Abschnitts gestutzt und hatte vielleicht schon den “Aha-Moment”. Allen anderen soll es hier nochmal erklärt werden:
“Es ist unheimlich schwer” – bezieht sich auf den Sachverhalt, dass es manchmal schwierig ist die Wahrheit vollständig zu erfassen, weil es eben manchmal schwierig ist alle relevanten Tatsachen zu berücksichtigen.
“Es ist nicht schwer” – bezieht sich auf den Sachverhalt, dass es manchmal eben nicht schwer ist, die Wahrheit zu erkennen und wir das im Alltag sowieso ständig machen.
Die Kunst ist beides auseinander zu halten 🙂
Das Problem mit der Wahrheit
Kommen wir zur nervigsten Lieblingsfrage eines Philosophen: Warum?
Warum ist das alles wichtig? Warum stellt die Entwertung von Wahrheit ein Problem dar?
Unfehlbarkeit ist ein Ideal von dem (fast) jeder Mensch weiß, dass er es nie erreichen wird. Irren ist menschlich. Gleichzeitig wird die Wahrheit als solche so hoch geschätzt, dass es ggf. sehr peinlich ist, falsch zu liegen. Menschen, die mit ihrer Meinung nahe an den Tatsachen sind, haben in Diskussionen oft einen Vorteil gegenüber Menschen, deren Meinung weiter von der Wahrheit entfernt ist. Das verleitet dazu, die eigenen Aussagen auf biegen und brechen als Wahrheit erscheinen zu lassen, auch wenn das bedeutet, den Begriff “Wahrheit” zu verändern. Nach dem Motto: “Wenn ich nicht recht habe, dann soll auch kein anderer recht haben.”
Lässt man das zu verliert die Suche nach der Wahrheit, also nach der Beschreibung der Tatsachen wie sie wirklich sind, an Bedeutung. Irrtümer werden nicht mehr erkannt, Menschen hören auf zu lernen. Alles wird irgendwie als richtig wahrgenommen und statt Tatsachen als solche möglichst realitätsnah zu beschreiben, gilt die Meinung des/der Lautesten als Tatsache. Im schlimmsten Fall wird bereits erkannte Wahrheit verworfen. Wahrheit für die vielleicht sogar Menschen gestorben sind, um sie zu erkennen. Ein neues Mittelalter wäre die Folge.
Das schöne an der Wahrheit ist ja, dass ein Irrtum gar keine Auswirkung auf sie hat (ganz im Gegensatz zu dem Irrenden). Und da sich Wahrheit immer nur auf einzelne Sachverhalte bezieht, zerstört ein Irrtum nicht alles was wir über die Welt wissen. Wir dürfen anderen (und noch wichtiger uns selbst) also erlauben sich zu irren, solange wir die Wahrheit – Wahrheit sein lassen.